Hände schieben - Tuīshǒu

„Hände schieben“ stellt eine Verbindung zwischen dem Üben von Prinzipien an Grundbewegungen oder Formen und dem freien Kampf her. Nach festgelegten Regeln wird das erlernte Können mit dem Partner ausprobiert.

Beide Partner schieben mit einer Hand senkrechte oder waagerechte Kreise, sie schieben mit beiden Händen in die vier „graden Richtungen“ sì zhèng 四正 oder die „vier Ecken“ sì yú 四隅, sie schieben am Platz oder in der Vorwärts- bzw. Rückwärtsbewegung. Sie schieben in festgelegten Bahnen oder später in freien Bewegungen.

1. beide „péng“
2. rechts „lǚ“
3. links „jǐ“ - rechts „àn“
4. beide „péng“
5. links „lǚ“
6. links „àn“ - rechts „jǐ“
Tuīshǒu 推手 in die vier „graden Richtungen“ (sì zhèng 四正)

„Hände schieben“ bringt dem Übenden die Erkenntnis der eigenen Fähigkeiten und der noch bestehenden Probleme, die im Kontakt mit dem Gegenüber schnell zu Tage treten. Darüber hinaus ist es eine Methode, die Fähigkeiten des Partners auszuprobieren und dessen Stärken und Schwächen zu ermitteln.

Prinzipien, Methoden und Ziele des „Hände schieben“ hat Wáng Zōngyuè 王宗岳 in seiner klassischen Schrift „Abhandlung über Tàijíquán“ 太极拳论 beschrieben. Er stellt fest, dass es außer dem Tàijíquán viele andere Kampfkünste gebe, deren äußere Formen sich zwar unterschieden, die sich jedoch alle darin glichen, dass der Starke den Schwachen überwinde und der Langsame dem Schnellen unterlegen sei. Das seien angeborene Fähigkeiten und nichts, was man erlernt habe. Der Satz „vier liǎng vermögen tausend Pfund zu bewegen“ (ein liǎng = 1/10 Pfund) drücke dagegen aus, dass nicht unbedingt die Größe der Kraft entscheidend für den Sieg sei.

Was aber ist dann entscheidend? „Wenn der andere mir mit Härte begegnet, dann entgegne ich ihm mit Weichheit. Das bedeutet Ausweichen. Ich bleibe in einer günstigen Position an ihm ‚kleben‘. Er befindet sich in einer ungünstigen Position. Das bedeutet Anhaften. Auf eine schnelle Bewegung folgt eine schnelle Reaktion, auf eine langsame Bewegung folgt eine langsame. Zwar gibt es zehntausende möglicher Veränderungen, aber diese Prinzipien haben durchgängig Gültigkeit.“ An einer anderen Stelle heißt es: „Wirkt auf der linken Seite ein Gewicht, dann wird links leer. Wirkt auf der rechten Seite ein Gewicht, dann ist rechts fern. Geht die Bewegung nach oben, gehe ich noch höher, geht die Bewegung nach unten, gehe ich noch tiefer. Wenn der andere sich vorwärts bewegt, weiche ich noch weiter zurück, wenn er zurückweicht, folge ich ihm immer nachdrücklicher.“

Die Partner lernen anhaften, folgen, ausweichen, sich weder zu verlieren, noch sich zu widersetzen, sich völlig auf den anderen einzustellen und keine eigenen Absichten zu hegen. Aus der Vertrautheit mit diesen Grundsätzen und den grundlegenden Prinzipien des Tàijíquán erwächst langsam ein tieferes Verständnis für die dem Tàijíquán innewohnende, besondere Kraft jìn , die sich von der äußeren Muskelkraft lì grundlegend unterscheidet. Aus dem Verständnis für die besondere Kraft des Tàijíquán erfolgt schrittweise der Eintritt in das höchste Stadium, in dem die Sinne des Übenden bereits so geschärft und verfeinert sind, dass es gelingt, den anderen völlig zu durchschauen. Durch Nutzung seiner eigenen Fehler wird er aus dem Gleichgewicht gebracht und im Ernstfall besiegt. Mit den Worten des Wáng Zōngyuè: „Der andere erkennt mich nicht, aber ich weiß genau, was er vorhat.“

„Hände schieben“ scheint wie eine nichtverbale Kommunikation, ein Austausch mit einem anderen Menschen, der auf einer direkten, sinnlichen Ebene stattfindet. Anders als beim individuellen Üben von Grundbewegungen oder Formen wird der Übende beim „Hände schieben“ mit einer neuen Kategorie äußerer Reize konfrontiert, die er fortwährend verarbeiten und seine eigenen Bewegungen darauf einstellen muss. Daraus entsteht eine schrittweise Verfeinerung der eigenen Sinne und eine Entwicklung des Bewusstseins, die immer tiefere Erkenntnis möglich macht.

Die anfänglich erwähnten zwei Aspekte des Tàijíquán, Nähren der Lebenskraft und intelligentes Selbstverteidigungssystem, verhalten sich wie Yin und Yang zueinander. Es sind zwei Seiten einer Sache. Das Nähren der Lebenskraft nach innen wird ergänzt durch die Verarbeitung vielfältigster Reize nach außen, wobei die Verwirklichung des Wesensgehaltes des Tàijíquán, wie ihn Wáng Zōngyuè beschrieben hat, von beiden Seiten angestrebt wird: „Ein langes Leben in ewigem Frühling“.

Tuīshǒu 推手 in die vier Ecken (sì yú 四隅). Beide Photos: links „dà lǚ“ 大捋 - rechts „kào“